In andere Rollen schlüpfen, fremde Welten erkunden und gemeinsam Abenteuer bestreiten. Dazu braucht es kaum mehr als Stift und Papier. In Pen & Paper-Rollenspiele einzusteigen, kann auf den ersten Blick überwältigen. Warum es sich trotzdem lohnt, verrät Jan Utecht (42) von All The Problems In This World.

Zu fünft sitzen sie um einen Tisch herum, vor ihnen Papier und Stift. Einer von ihnen am Kopfende hinter einem großen Buch versteckt. Er ist Spielleiter. Die Übrigen blicken aufmerksam zu ihm und folgen seiner Erzählung. Denn sie selbst sind Teil der Geschichte. Sie übernehmen die Rolle von selbst erstellten Charakteren und treten gemeinsam den Herausforderungen entgegen, vor die sie der Spielleiter stellt.

Wer bisher keine Erfahrungen mit Pen & Paper-Rollenspielen gesammelt hat, kennt Szenen wie diese zumindest aus Serien wie Community, The Big Bang Theory oder Stranger Things. Dort sind es meist „Geeks“ und „Nerds“, die sich dem analogen Rollenspiel hingeben. Dabei handelt es sich im Kern um einfache Gesellschaftsspiele. Der Unterschied: Sie enden nicht an einem Abend. Tatsächlich haben sie das Potenzial ewig fortzulaufen. Welche weiteren Potenziale in ihnen stecken, erzählt Geschäftsführer des Berliner Comic- und Pen & Paper- Rollenspielladens All The Problems In This World Jan Utecht.

 

Philosaur: In Berlin führst einen Laden für Comics und Pen & Paper- Rollenspiele – Spielst du selbst auch?

Jan: Ja, Das Schwarze Auge – Fünfte Edition seit ich 16 oder 17 bin. Heute nur noch selten, weil ich mit meinen Freunden von damals spiele. Wir spielen vielleicht zweimal im Jahr. Wenn es gut läuft, auch dreimal. Dazu treffen wir uns in einem Haus im Wald. Ein altes Fachwerkhaus, das den Pfadfindern gehört mit einem Kamin und einer eigenen Küche. Also für ein Fantasy-Rollenspiel das perfekte Ambiente. Und dann spielen wir zwei Tage und Nächte durch. Ich glaube, wenn wir Zeit hätten, würden wir auch alle zwei Monate spielen oder vielleicht sogar jeden Monat.

 

Philosaur: Klingt zeitintensiv. Für jemanden, der damit bisher gar keine Berührung hatte: Warum überhaupt mit Pen & Paper- Rollenspielen anfangen?

Jan: Bei Rollenspielen hast du zunächst den sozialen Aspekt. Du machst etwas gemeinsam mit Freunden. Dazu brauchst du theoretisch nichts anderes als das Regelwerk, Würfel, Papier und Stift. Im Spiel hast du dann als Gruppe ein gemeinsames Ziel, wie beim Mannschaftssport auch. Ihr müsst als Team funktionieren und die Stärken und Schwächen der Mitspieler kennen und gegebenenfalls ausgleichen. Ich müsst euch auf Situationen einlassen, die ihr vielleicht nicht ganz einschätzen könnt. Das kann ganz platt bedeuten einen übermächtigen Gegner gemeinsam zu besiegen, oder auch sehr emotional und persönlich, oder tiefgründig, und sehr moralisch werden. Stichwort Komfortzone verlassen, evtl. sogar eigenen Traumata im Spiel begegnen, oder in eine philosophische Diskussion einsteigen und für die Überzeugung seiner Rolle einstehen. Mittlerweile gibt es für solche Situationen schon Safety Modes, weil Rollenspiele eben theoretisch das Potential haben sehr in die Tiefe gehen und auch mal weh tun zu können. Aber das hängt immer von der Spielgruppe ab und der Person die das Spiel leitet.

Im Spiel passiert ja alles auf einer fiktiven Ebene. Dir kann ja nichts wirklich passieren. Was aber wirklich passieren kann, ist, dass du dich tierisch aufregst, super traurig bist, dich totlachst oder, dass du drei Stunden lang mit deinen Freunden eine Szene spielst, einfach nur, weil es so einen Spaß macht. Du merkst einfach, hier passiert gerade was. Unsere Figuren nähern sich richtig an. Wir werden Freunde und das ist eigentlich das allergeilste am Rollenspiel.

Es ist eine Herausforderung an deine Kreativität oder an deine Fantasie und gleichzeitig an deine sozialen Kompetenzen, weil du teilweise auch sehr diplomatisch sein musst. Vor allem, weil es etwas Langlebiges ist. Man trifft sich immer wieder. So ein Rollenspiel ist ja nicht an einem Abend vorbei. Es hat das Potential immer weiterzugehen.

 

Philosaur: Aber ist das wirklich was für jeden? Ich mein, Pen & Paper- Rollenspiele sind doch nur was für Geeks und Nerds, oder nicht?

Jan: Das sind so die Wurzeln und das Klichee, aber in den letzten zehn Jahren sind Geeks und Nerds ja auch cool geworden. Ich glaube auch, dass Rollenspiele nicht nur für Nerds oder Geeks sind, sondern für alle. Nur muss man sich halt darauf einlassen, muss Bock drauf haben. Ich glaube auch, dass es ist egal ob man Astrophysiker ist oder Kindergärtnerin. Wenn du Bock hast auf das Spiel und ihr miteinander klarkommt, dann funktioniert das. Dann kann man auch zusammen in eine Welt eintauchen, die man eigentlich sonst nur aus Filmen oder Büchern kennt und sich eine Figur ausdenken, die zum Leben erweckt wird, mit der man leidet und sich freut.

Davon ab hat es natürlich ein sehr großes Maß an Eskapismus. Es muss einem aber nicht schlecht gehen, damit man Rollenspiele spielt. Aber man kann aus seinem Alltag ausbrechen und auf eine mega geile Art, Zeit mit seinen Freunden verbringen. Und man muss dafür auch nicht an einen See fahren, sondern man… schließt sich in der dunklen Kammer ein. *lacht* Aber auch das muss man nicht. Man kann sich auch in den Park setzen zum Spielen… oder in ein Café.  

 

Philosaur: Es gibt so viele Rollenspiele. Mich überfordert das schon ein wenig. Welches Spiel würdest du mir denn als Einsteiger empfehlen?

Jan: Ich glaube, es gibt keine guten Einsteiger-Spiele. Es gibt einfach nur Spieler, die Lust auf bestimmte Welten haben. Wenn jemand ein Buch in die Hand nimmt oder sich die PDF anschaut und ihn das Artwork anspricht, ist das das Einzige, was notwendig ist. Und dann liest man halt. Gefallen die Regeln oder gefallen sie nicht? Wichtig ist, dass der Spielerleiter das Regelwerk einmal gelesen hat. Die Spieler müssen das zwar nicht machen, es ist aber hilfreich. Und dann setzt man sich an einem Tag zusammen und baut einen Charakter. Für Anfänger ist oft wichtig, das gemeinsam zu machen. Oft macht man etwas falsch oder missversteht etwas.

Außerdem ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass der Spielerleiter die Charaktere kennt, weil er dann im Rollenspiel auf sie eingehen kann. Ich finde ein Charakter muss auch eine gewisse Tiefe haben, was bedeutet, dass sie irgendwelche Traumata mit sich rumschleppen, negative Eigenschaften haben oder irgendwas nicht können. Wenn der Spielleiter das weiß, kann er Situationen erschaffen, in denen die Figur gezwungen ist, sich damit auseinanderzusetzen und das bekommen auch die anderen mit. Das macht die Sache super spannend. 

Wem das alles zu viel Zwischenmenschliches ist, kann das Spiel aber auch so auslegen, dass es einfach nur darum geht möglichst schnell möglichst viele Abenteuer zu erleben, oder maximal gemein zu sein, ahah. Aber ich denke bei Lord Of The Rings geht es am Ende auch mehr darum, wie unterschiedlich alle sind, und wie sie zueinander finden, als darum den Ring zu vernichten und Gutes zu tun.

 

Philosaur: Ok, überzeugt. Ich hab Bock mich in eine Welt zu stürzen und Abenteuer zu erleben. Aber ohne Freunde bin ich ganz schön aufgeschmissen, oder nicht?

Ja, du brauchst schon mindestens vier Leute. Man kann auch zu dritt spielen, aber das macht eigentlich keinen Spaß, weil die Dynamik in einer größeren Gruppe immer wesentlich spannender ist. Es sollten aber auch nicht mehr als sieben Spieler sein. Jeder möchte mal rankommen und was sagen und auch mal kämpfen. Das dauert dann teilweise alles sehr lang und dann sitzt man rum und langweilt sich. Also zwischen vier und sechs Spielern sollten es sein. 

Es kann auch total lustig sein, mit Fremden zu spielen. Wenn man das erste Mal spielt und noch keine Vorstellung davon hat, dann ist die Gruppe, mit der man anfängt, eigentlich perfekt, egal wer es ist. Wenn man aber ein schon ein Jahr spielt und in eine neue Rollenspielgruppe kommt, die alles komplett anders macht, ab da wird‘s halt… kompliziert.

In meiner Gruppe ist beispielsweise total klar, dass jeder im Spiel auch als die Figur spricht. Für mich ist das gar nichts Besonderes mehr, wenn man plötzlich seine Stimme verstellt und nach Mittelalter klingt. Und dann gibt es Gruppen, die sagen: “Ja… Meine Figur geht jetzt dahin und fragt, ob das möglich ist“. Ich finde das schade, weil man damit gar nicht das Potential nutzt, dass in Rollenspielen steckt. Ich weiß, dass es für viele Leute schwer ist. Aber wenn man erstmal den ersten Schritt gemacht hat und sich alle darauf einlassen, merkt man auch, dass sie nicht über einen lachen, sondern miteinander. Alle geben sozusagen noch eine Schippe mehr als theoretisch notwendig, und dadurch entsteht der wundervolle Unterschied zum simplen Gemeinschaftsspiel, oder zum virtuellen Spiel. Ein echter Drive entsteht, der aber sofort abbricht sobald jemand nicht mehr mit zieht. In deiner Rolle zu handeln gibt dem Ganzen eine sehr besondere Tiefe, und macht Riesenspaß. Es macht halt viel Spaß und gibt der ganzen Sache einfach viel mehr Tiefe.

 

Philosaur: Gerade meintest du, dass Pen & Paper- Rollenspiele für alle sind. Mit deinem Laden bedienst du aber nicht gerade den Massenmarkt. Dungeons & Dragons gibt es nicht und auch sonst sind die Titel ja eher nieschig. Wie passt das denn zusammen?

Jan: Ich habe Dungeons & Dragons nicht hier, weil du Dungeons & Dragons überall kaufen kannst. Auch Das Schwarze Auge mag ich als Produkt eigentlich nicht, aber ich spiele es trotzdem. Verkaufen möchte ich es aber eigentlich nicht, weil es andere Produkte gibt, die viel spannender sind und es viel mehr verdient haben, verkauft zu werden. Alles, was du in meinem Laden siehst, ist genauso wenig und genauso viel Mainstream wie Das Schwarze Auge und Dungeons & Dragons auch.  

Bei den Rollenspielen ist es wirklich kompliziert an Sachen ranzukommen. Ich hab vor knapp acht Jahren über Leute in den USA mitbekommen, dass durch Kickstarter und Crowdfunding Spiele produziert werden, die nichts mit den großen Verlagen zu tun haben und Rollenspiele ganz anders darstellen. Mal neue Thematiken, mal alte Thematiken, aber auf neue Art erzählt. 

 

Philosaur: Und was hat es mit dem Namen von deinem Laden auf sich?

Jan: All The Problems In This World… Auf der ersten oder zweiten Bilderberg Konferenz – Berliner Underground Comix Festival – da war ich und da hing ein Artwork mit lauter Problemen dieser Welt. Ich hab’s gesehen und fand es super lustig. Dann hing es jahrelang bei mir im Bad und jeder, der drin war, hat irgendeinen Kommentar dazu gelassen: „Ist super witzig“, „Total bescheuert“, „Das ist aber nicht politisch korrekt“. 

Irgendwie habe ich dann gedacht, dass das eigentlich ein geiler Name für den Laden wär. Denn es geht in dem Laden ums Geschichtenerzählen, und zwar auf zwei unterschiedliche Arten: Einmal mit Comics und Bildern und dann halt als interaktiv gemeinsam erlebte Geschichte. Gute Geschichten brauchen dazu immer Probleme und Herausforderungen.

 

Philosaur: Du machst dich ziemlich stark für Rollenspiele. Hast du schon konkrete Pläne?

Jan: Was ich in Zukunft gern vorantreiben möchte, sind Workshops an unterschiedlichen Stellen. Beispielsweise in Schulen, weil man Kindern und Jugendlichen im Rollenspiel wahnsinnig viel vermitteln kann, ohne dass sie es merken. Sie denken einfach, dass sie jetzt Abenteuer erleben und brutale Zwergenkrieger oder sowas sind. In Wirklichkeit bringst du ihnen bei, wie man als Team zusammenarbeitet, wie man diskutiert, wie man andere Kulturen wertschätzen lernt und wie man andere Ausreden lässt. Und genauso sollte Lernen ja eigentlich funktionieren.

Da mich der Laden zeitlich so stark beanspruchst, außerdem habe ich zwei tolle Kinder, komme ich leider nicht dazu regelmäßige Workshops, oder andere Veranstaltungen zum Mitmachen anzubieten. Das bleibt aber ein mittelfristiges Ziel. Als kleines Trostpflaster habe ich stattdessen in den letzten zwei Jahren das Unlimited Dungeon Fest in der Tennis Bar in Neukölln veranstaltet. Dazu habe ich beide Male sechs erfahrene Spielleiter eingeladen und dann über den Onlineshop jeweils fünf Tickets angeboten. Letztes Jahr konnte ich die Autoren von MÖRK BORG und CY_BORG aus Schweden überzeugen nach Berlin zu kommen, einen kleinen Talk mitzumachen, und  sogar selbst ihre Spiele zu leiten. Die Leute sind dafür extra aus dem Pott angereist und aus Bayern. Es waren erfahrene Spieler dabei und auch welche ohne jegliche Erfahrung. Das war fantastisch! Leider schaffe ich das dieses Jahr nicht, aber voraussichtlich im Januar gibt es stattdessen ein Film-Event in einem Kreuzberger Kino, dass ich dann kuratiere und zu dem ich wirklich ungewöhnliche Gäste einlade. Auch hierbei richte ich mich nicht nur an Menschen, die schon Rollenspiel-Erfahrung haben, sondern genauso an alle die einfach neugierig sind, und gar nicht wissen was ein D20 ist.

 

Philosaur: Abschließend noch ein Tipp für Rollenspiel-Einsteiger?

Jan: Hab den Mut, eine Figur zu spielen, die nicht die coole Sau ist, die nur schweigsam in der Ecke sitzt. Trau dich eine Figur zu spielen, die etwas zu erzählen hat. Versuch also nicht schon perfekt zu sein. Wenn du perfekt bist, dann brauchst du das Spiel nicht zu spielen. Es braucht Überwindung, sich aus der Komfortzone zu wagen, aber es lohnt sich!

Kategorien: Games

1 Kommentar

Patrick · 2. Januar 2024 um 20:26

Danke für das Interview! Ich war schon ein paar Mal in dem Laden und finde es großartig, dass so eine Nische existieren kann.

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