Zum zweiten Mal kommen Gamer im Landeszentrum für E-Sport und Digitalisierung Schleswig Holstein (LEZ SH) in Kiel zusammen, um sich einem kosmischen Kampf um die Galaxie zu stellen. Einen ganzen Tag lang werden Imperien erbaut, Bündnisse geschlossen und Schlachten ausgetragen: Hier spielt man Stellaris.

9:00 Uhr – Samstag. Der Tag beginnt mit Regen. Im Büro des LEZ SH ist es ruhig. Chris Gudde (29) sitzt an einem von vier Schreibtischen, die in der Mitte des Raumes eine Insel bilden. Jeder von ihnen ausgestattet mit zwei Monitoren, einem tischgroßen Mousepad und einer Tastatur, die farbig aufleuchtet. Mit einem Klick wechselt der Bildschirm zwischen Whatsapp und Discord. Gudde, wie ihn Freunde und Kollegen nennen, prüft ein letztes Mal alle Kanäle auf Nachrichten, bevor das Stellaris-Event „Galaxie LEZ Secundus“ offiziell startet. Sein hellbraunes Haar steht leicht ab. Um den Mund herum ein leichter Bart. Er ist kräftig, trägt den obersten Knopf seines violett karierten Hemdes offen. Darunter schaut ein schwarzes T-Shirt hervor. Angespannt wirkt er nicht. Seit acht Monaten arbeitet er ehrenamtlich beim LEZ SH als Social Media Manager. Seine Aufgaben reichen darüber hinaus. Sein Blick wirkt verschlafen. Schon am Vortag veranstaltete das LEZ SH ein Gaming-Event zum E-Sport-Klassiker Counter Strike. „Wurde spät“, wie Gudde erklärt. Übrig geblieben sind leere Wasserflaschen und die Rechnung einer Pizzabestellung auf seinem Tisch.

Das Landeszentrum für E-Sport und Digitalisierung gibt es seit vier Jahren. Durch die Zusammenarbeit mit E-Sport-Dachverbänden gilt das LEZ SH als Wissens- und Vernetzungs-Hub mit eigenen E-Sport-Trainingsräumen. Das Ziel: „E-Sport auf eine gesunde Art und Weise nahbarer für die breitere Masse machen“, erklärt Gudde. Finanziert wird das Ganze vom Land Schleswig-Holstein und der Landeshauptstadt Kiel. Zur Verfügung stehen ihnen sechs Trainingsräume mit Gaming-PCs und Konsolen, dazu eine Küche, ein Sport- und Konferenzraum sowie ein Studio für Aufnahmen und Streams. Gearbeitet wird ehrenamtlich. Zwischen 25 und 30 aktive Helfer bringen sich ins tägliche Geschehen ein. Chris Gudde ist einer von ihnen.

09:15 Uhr – „Moin!“, grüßt Gudde die ersten Teilnehmer, die durch die gläserne Eingangstür schreiten. Seine Erschöpfung weicht der Freude. Souverän führt er die ersten Spieler nach einem Händedruck durch den langen Flur zu den Plätzen. In den Trainingsräumen prüft sein Kollege Mirco die Rechner noch einmal auf Updates, während Max im Büro die Teilnehmerliste durchgeht. Auch sie arbeiten ehrenamtlich im LEZ SH. Gemeinsam mit Gudde wird Max die Veranstaltung vom Studio aus begleiten und das Spielgeschehen live im Twitch-Stream kommentieren.

Immer wieder schrillt das Klingeln der Eingangstür durch die Räume. Und stets aufs Neue nimmt Gudde die freudig aufgeregten Teilnehmer in Empfang. Sie alle kommen mit Rucksack.  Mit dabei: Proviant für den Tag. Denn angesetzt ist die Veranstaltung bis 22 Uhr – mit open End. Insgesamt neun Teilnehmer treffen an diesem Morgen ein. Vom Anfänger bis zum Veteranen ist alles dabei. Nicht alle von ihnen stammen aus Kiel. Eine Gruppe nahm den weiten Weg aus Potsdam auf sich, ein weiterer Spieler reiste aus Köln an. Wer bei diesem Gaming-Event mit Kinder rechnet, bleibt erstaunt zurück. Denn die Altersspanne beginnt bei 20 und reicht über die 30 hinaus.

Von der anfänglichen Ruhe ist derweil nichts mehr zu spüren. Wer sich kennt, legt sich Strategien zurecht, Fremde spekulieren nervös über den Verlauf des Spiels oder teilen Erfahrungsberichte. Sie richten sich in drei Räumen ein. Snacks und Getränke platzieren sie griffbereit. Auf ihren Rechnern startet das Spiel, auf dem Bildschirm erscheint Stellaris.

10:30 Uhr – Halb sitzend, halb stehend lehnt Gudde an einem der Tische am Rande des Konferenzraumes. Spieler und Organisatoren kommen zusammen. Die Arme vor der Brust verschränkt hört Gudde lächelnd dabei zu, wie einer der Teilnehmer den anderen vom vergangenen Event berichtet. Mit dem letzten Teilnehmer im Raum ergreift Gudde das Wort: „Sooo“, seine kräftige Stimme legt sich über alle Gespräche und mit einem Mal wird es still. „Herzlich Willkommen zu unserer zweiten LEZ-Runde von Stellaris“. Alle Blicke lasten auf ihm. Gespannt lauschen die den Details des geplanten Spielverlaufs. Das Rollenspiel kann beginnen.

Für die nächsten zehn Stunden übernimmt jeder Spieler die Kontrolle eines Volkes. Anders als es Stellaris-Spieler sonst gewohnt sind, wählen sie ihr Volk nicht vollkommen frei, sondern ziehen einen zufälligen Umschlag. Jeder Umschlag enthält zwei Szenarien, von denen sich die Spieler für eines entscheiden müssen. Diese geben bestimmte Eigenschaften des Volkes sowie ein individuelles Spielziel vor. So kann es beispielsweise sein, dass ein Spieler mit einem Volk aus Steinwesen startet, das statt sich mit Raumschiffen fortzubewegen, in Form von Meteoriten auf fremden Planeten einschlägt. Große Krater sorgen dann zwar für Boni beim Abbau von Mineralien, schaden dafür dem Ökosystem des Planeten. Die wählbaren Szenarien bauen darauf folgendermaßen auf:
Im ersten Szenario wäre das Volk bösartig und radikal kapitalistisch gesinnt. Das Ziel des Reiches wäre es jeden Planeten so stark auszubeuten, dass ein Leben auf ihm nicht länger möglich sei.
Das zweite Szenario gibt dem Volk dagegen das Wesen einer regenerativen Industrie vor.  Hier wären sie im Herzen Naturschützer und hätten das Ziel aus ihren Planeten sogenannte Gaia-Welt zu bilden –Paradiese. Auf denen sich sämtliche Lebensformen heimisch fühlen.

Im Kern handelt es sich bei Stellaris um einen Wirtschafts- und Diplomatiesimulator im Science Fiction-Setting – ein Echtzeitstrategiespiel im Kosmos. Im Zentrum steht das Wachstum des eigenen Reiches. Möglich wird das durch die Besiedelung fremder Welten, mithilfe diplomatischer Bündnisse oder eben auf militärischem Wege. Im Fachjargon bezeichnet man Spiele dieser Art auch als Map-Painter. Wächst das eigene Imperium unter einer roten Flagge, setzt man alles daran, die gesamte Spielwelt rot einzufärben. Die Veranstaltung des LEZ SH hebt diesen Aspekt aus, indem sich Spieler in der Realität begegnen und politische Entscheidungen somit moralisches Gewicht erhalten. Statt blind mit Zahlen zu jonglieren, sitzen Opfer hinterhältiger Angriffe vielleicht nur wenige Meter entfernt. Darüber hinaus gewinnt der Spieler mit den höchsten Punkten nur dann, wenn dieser auch sein vorgegebenes Missionsziel erreicht. Tut er das nicht, wird er aus der Abschlusswertung ausgeschlossen.

10:50 Uhr – Die Spieler sitzen wieder an ihren Plätzen. Konzentriert geben sie die vorgegebenen Eigenschaften ihres Volkes ein. Gudde geht rum und schreibt sich Umschlagnummer und Szenario eines jeden Spielers auf einen Zettel. Kurz darauf verschwindet er im Studio. Die Tür schließt und der darüber befindliche Schriftzug „On Air“ leuchtet rot auf. Zusammen mit Max sitzt er hinter drei Monitoren verschanzt. Hinter ihnen ein Green Screen. Der Stream startet, das Spiel geht los.

Gudde (links) und Max (rechts) begleiten das Spiel aus dem Studio.

In den Räumen der Spieler wird es still. Gelegentliches Mausklicken ergänzt den Klang verregneten Straßenverkehrs, welcher durch das offenstehende Fenster dringt. Gebannt starren die Teilnehmer auf ihren Monitor – darauf der schwarze Kosmos. Nach wenigen Minuten bricht das Schweigen: „Es könnte Nice sein, oder richtig bummsen, was ich hier entdeckt hab…“, bricht es aus einem der Spieler heraus. Nachdenklich und mit einem leichten Grinsen streicht er über sein Kinn. „Wahrscheinlich beides“, kommentiert sein Freund hinter ihm. Wie ein Pendel schafft es die Stimmung zwischen Anspannung und amüsierten Kommentaren zu wechseln. Wer in einem Moment lächelnd zu seinen Mitspielern rüberschaut, blickt schon im nächsten wieder ernst und schweigsam und mit wippendem Fuß aufs eigene Spiel.

Von außen betrachtet, gleicht die Szene einem entspannten Spiel. Als würde jeder von ihnen unbeherzt das weite All erkunden. Für die Spieler selbst ist es das Gegenteil. Ständig blinkt etwas auf. Über das Headset meldet sich die Stimme des Beraters mit neuen Berichten. Einheiten müssen auf der Karte koordiniert werden. Im selben Moment werden Verhandlungen in den Chat getippt. Ein Fenster mit einer eingehenden Übertragung öffnet sich. Eine Wand aus Text erscheint, darunter Antwortoptionen mit der Frage „Was sollen wir antworten?“. Routiniert springt der Veteran von einem Fenster ins nächste. Der Anfänger gerät sichtlich ins Schwitzen.

Auch nach Stunden bleiben die Spieler konzentriert.

Zuschauer, die das Spektakel über den Twitch-Stream des LEZ SH verfolgen, behalten das gesamte Spielgeschehen im Blick. Anders als die Spieler selbst haben die Moderatoren Gudde und Max uneingeschränkte Sicht aufs gesamte Spielfeld. Sie nehmen das Publikum an die Hand und erklären in einfachen Worten Pläne und Ziele der Spieler. Immer wieder zoomt Gudde an die Reiche der Teilnehmer und liest den Text ihrer aufblinkenden Fenster vor.

Nach drei Stunden beginnt sich ein Spieler sichtlich von den anderen abzusetzen. Mit seinem Volk aus intelligenten Pilzwesen unterwirft er zwei angrenzende Reiche. Seine Mission: jede Spezies zu versklaven. Am anderen Ende des Universums geht es dagegen harmonischer zu. Ohne etwas von Gefechten mitzubekommen wachsen hier Völker zu einer Föderation zusammen.

15:40 Uhr – Die erste große Krise des Spiels kündigt sich an. Ein mächtiger KI-gesteuerter Schwarm aus Piraten geführt von einem großen Khan wütet über die Karte. Mächtig genug die Reiche der Spieler niederzureißen. Ein Rat wird einberufen. Binnen weniger Minuten stehen alle Spieler von ihrem Platz auf und sammeln sich im Konferenzraum des LEZ SH. Am Kopfende des Tisches ergreift einer von ihnen stehend das Wort: „Der Khan ist aufgetaucht!“. In einer kurzen Zusammenfassung schildert er die letzten Geschehnisse weist auf die unmittelbare Bedrohung hin. „Ich denke, es würde der gesamten Galaxis sehr gut tun, wenn wir uns hier zusammentun, um den Khan aufzuhalten“, lautet sein Appell an die Spieler. Gudde lehnt sich ans Fenster und beobachtet, wie die Gruppe sich einen Kampfplan zurechtlegt. Nach zehn Minuten ist die Zeit abgelaufen. Gudde fasst ihre Beschlüsse zusammen und schließt den Rat. Das Spiel geht weiter. Mit vereinter Kraft schaffen sie es, den Kahn zu überwältigen.

Im intergallaktischen Rat trägt ein Spieler einen Vorschlag vor. Es wird verhandelt.

In den zahlreichen Pausen nutzen die Spieler die Freiheit sich durch die Räume zu bewegen. Aus Fremden werden Verbündete und Berater. Man schaut einander über die Schulter, gibt sich Tipps und lernt sich kennen. Und doch verhärten sich die Gruppen im Spiel. Im Chat wird auf Schwachstellen hingewiesen und immer mehr spitzen sich verhängnisvolle Intrigen zu.

19:00 Uhr – Draußen wird es dunkel, drinnen brennt das Licht. Seit acht Stunden moderiert Gudde das Spiel. Acht Stunden, in denen die Kamera auf ihn gerichtet ist. Sein Partner Max bricht auf. Private Pflichten, die ihn vom Event lösen. Der Rest der Veranstaltung wiegt damit auf Guddes Schultern. Doch auch allein schafft er es, in einem konstanten Redefluss zu bleiben und für eine Hand voll Zuschauer das Muskelspiel an den virtuellen Fraktionsgrenzen zu kommentieren: „Da wird nur viel gekuschelt“, erwartungsvoll zeigt er auf eine Armee von Kriegsschiffen, die sich gegenüberstehen.

Und auch bei den Spielern scheint sich keine Form von Müdigkeit einzustellen. Die Luft hingegen ist aufgebraucht. Süß-Saurer Schweißgeruch beißt in der Nase.

20:20 Uhr – Endspurt. Die letzte große Krise erscheint auf der Karte. Durch einen Spalt im All strömen tausende kleine Schiffe in die Galaxie, um alles Leben zu vernichten. Elf Stunden hatten die Spieler Zeit sich auf das Finale vorzubereiten und doch sind sie der Gefahr machtlos ausgeliefert. Einer der Veteranen und Favoriten auf den Sieg wird binnen weniger Minuten von der KI auseinandergerissen. Er scheidet als erstes aus dem Spiel. Dann eskaliert die Sache. Zwei gefallene Reiche erwachen. Dabei handelt es sich um mächtige KI-gesteuerte Reiche, die während des gesamten Spielverlaufs in einem schlafähnlichen Zustand versetzt sind. Plötzlich stehen sich beide gegenüber – und das nicht wohlgesonnen. Ihren Konflikt tragen sie auf dem Rücken der Spieler aus. Sie sind bloß Kollateralschaden einer epischen Schlacht, während die Krise der kleinen Schiffe weiter über die Karte wütet. Ein Spieler nach dem anderen fällt den rasenden Mächten zum Opfer. Es ist vorbei. Der Stream endet.

Erschöpft nimmt Gudde seine gewaltigen Kopfhörer ab und kommt hinter seiner Monitorwand hervor. Im Konferenzraum sammeln noch einmal alle Organisatoren und Spieler. „Ja, das wars“, verkündet Gudde lächelnd“. Die Teilnehmer schauen sich einander an, erzählen von ihren letzten Eindrücken. Erleichterung und Freude überschatten das frustrierende Ende. „Um noch ganz kurz zu verkünden, wer denn theoretisch gewonnen hätte“, leitet Gudde den Abschluss ein. Geschaut wird, wer sein Missionsziel erreicht hat, erst dann spielen die erwirtschafteten Punkte eine Rolle. Sieger des Abends wird das intelligente Pilzvolk, das es schaffte, zumindest ein Exemplar jeder Spezies unter seine Kontrolle zu stellen.

13 Stunden dauerte die Veranstaltung. „Ich fühl mich müde, aber das habe ich mich vorher auch schon gefühlt“, erklärt Gudde. „Im Endeffekt war das wie ein sehr langer Spieleabend“. Er verbucht das Stellaris-Event als Erfolg. Und auch die Teilnehmer sind zufrieden. Sie haben jetzt schon beschlossen, wieder dabei zu sein, wenn das Schicksal der Galaxie in Stellaris aufs Neue entschieden wird. Wann und wo das nächste Stellaris-Event stattfindet, steht noch nicht fest. Seit April 2023 gibt es eine neue Leitung im LEZ SH. Gudde und seine ehrenamtlich engagierten Kollegen haben sich geschlossen vom Landeszentrum getrennt. Doch sie wollen weitermachen. Wie genau das in Zukunft aussehen wird, steht allerdings noch in den Sternen.

Kategorien: Games

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